
Wer arm ist, redet nicht darüber – die AWO tut’s öffentlich:
Gespräche und Berichte beim Fest rund um die Reinoldikirche
Gefüllte Butterbrotdosen nur zweimal in der Woche, nach den Ferien ausgehungerte Kinder, fehlende Gummistiefel für das Spielen im Matsch – die Mitarbeitenden der AWO in Dortmund wissen, wovon die Rede ist, wenn das Wort Kinderarmut ausgesprochen wird. So hat der Wohlfahrtsverband vor knapp zwei Wochen eine Kampagne gestartet, um das versteckte Thema ans Licht zu holen. Am Samstag hatte die Arbeiterwohlfahrt an die Reinoldikirche eingeladen, um Kinder zu unterhalten und die Erwachsenen über die Lage in Stadt und Land zu informieren. Die Mischung aus Musik und Meinung, aus Politik und Popcorn kam derart gut an, dass der Platz vor der Bühne und an den Ständen drum herum sechs Stunden lang sehr gut gefüllt war.
In ihrer Begrüßung sagten die AWO-Vorsitzende Anja Butschkau und die AWO-Geschäftsführerin Mirja Düwel: „Die AWO ist ein Sprachrohr für alle, die Hilfe brauchen.“ Deshalb habe man sich auch in Zeiten wie diesen dazu entschlossen, diesen Missstand zu beleuchten. Moderiert von dem sehr gut vorbereiteten Christoph Tiegel, der zu Beginn und zum Ende des Festes mit der Kellerband Hits aus den vergangenen 50 Jahren spielte, sprachen dann Dortmunds Sozialdezernentin Birgit Zoerner, Lucie Tonn vom Kompetenzzentrum Kinderschutz und Anja Butschkau darüber, dass arme Kinder häufig arme Erwachsene werden. Tonn und Butschkau bezogen das auf eine gemeinsame Studie, für die AWO und Kinderschutzbund 25 Jahre lang dieselben Kinder bis ins Erwachsenenalter begleiteten. „Armut wird vererbt.“ Armut sei strukturell bedingt, nicht die Schuld der einzelnen.
Birgit Zoerner nannte Zahlen. In Dortmund lebten rund 100.000 Kinder und Jugendliche zwischen 0 und 17 Jahren, „von denen rund 30 Prozent Transferleistungen beziehen“. Das sei nicht nur Hartz IV, auch Geld nach dem Asylbewerberleitungsgesetz falle darunter. Die Kommune selbst könne die Politik nicht ändern, aber dafür sorgen, „dass jeder mitmachen könne in der Gesellschaft“. Dafür sorge man mit Projekten in 13 der so genannten Aktionsräume. „Niedriglohnsektors die falsche Entscheidung“. So sei der Unterschied zwischen arm und reich noch größer geworden als davor.
Lucie Tonn sprach eine weitere Folge der Armut an: die Kindeswohlgefährdung. Sei die Armut groß, sei es wahrscheinlicher, dass Kinder vernachlässigt würden. Sie fordert, wie auch Anja Butschkau, eine Kindergrundsicherung, deren Betrag je nach Familieneinkommen, mindestens 333 Euro pro Monat betragen müsse, und höchstens 699 Euro. Um das zu erreichen, müssten Kinderrechte als eigener Artikel im Grundgesetz garantiert sein. Dann sei die Politik verpflichtet, effektiv gegen Armut von Kindern zu handeln.
Zwischen Auftritten des Zauberers Mr. Tom, des Clowns Ugolino und der Poetin Ella Anschein holte Moderator Christoph Tiegel AWO-Mitarbeitenden auf die Bühne. Petra Bock, Betriebsleiterin der Kindertageseinrichtungen, berichtete von Anziehsachen, die viele Kitas vorrätig hätten, von Tornisterspenden Jahr für Jahr und von Jungen und Mädchen, die nicht wüssten, wie man spielt, weil sie kein eigenes Spielzeug hätten. Ricarda Erdmann, die den Migrations- und Integrationsfachdienst leitet, kennt die Familien, die „in knallharter Armut leben und die die Brotdosen der Kinder nur zweimal die Woche füllen können“.
Die kennt auch Sarah Heidenreich-Strunk, bei der AWO-Tochter dobeq für die Offene Ganzbetreuung zuständig: „Die Kinder schämen sich und holen ihre Brotdosen gar nicht mehr raus. Sie sagen, sie hätten keinen Hunger.“ Dabei weiß sie, dass es genau anders ist. „Nach den Ferien kommen einige oft ausgehungert in den Schulen.“ Erdmann und sie wünschen sich für die Jungen und Mädchen: „Die beste Lösung ist ein für die Kinder kostenloses Mittagessen.“ Wer Hunger habe, habe wenig Interesse an anderen Dingen. „Über Integration können wir nur mit gefüllten Bäuchen reden.“
Das sehen die Streetworkerin Tara Fell und Sören Jagnow aus der offenen Jugendarbeit genauso. „Beim Essen sind die Jugendlichen froh, dass sie mal was anderes kriegen als Spaghetti mit Ketchup.“ Schulden, schlechte Zähne, keine Wohnung – die Armut hat viele Gesichter, nicht nur in der Nordstadt. Auch Steffen Pohl, Leiter der Kita Mergelteichstraße in Dortmunds Süden, hat sie gesehen: „Familien, die dreimal das Mittagessen zahlen müssen, dreimal die Matschkleidung“, da werde es schon eng. In seiner Einrichtung gebe es jetzt kein ausgrenzendes Element mehr. Weder für die Martinsbrezel, noch für die Tagesausflüge müsse ein, wenn auch noch so kleiner, Beitrag geleistet werden. „Wir haben einen barrierefreien Zugang zu allen Angeboten.